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Als der Eiserne Vorhang 1989 fiel, herrschte Euphorie. Auf allen Seiten. Aber schon bald lichteten sich die Begeisterungsnebel. Damals fragte mich ein slowakischer Filmkollege, wie lang es wohl dauern werde, bis der ökonomische Standard Österreichs erreicht sei. „Frühestens in zehn Jahren“, habe ich ihm geantwortet. Ungläubig hat er mich angeschaut und als allzu skeptischen Optimisten verlacht. Mittlerweile sind 15 Jahre vergangen. Einige Nachbarländer sind seit Mai Mitglieder der EU, aber mit massiven Einschränkungen, vor allem betreffend den Arbeitsmarkt, noch immer gibt es Grenzkontrollen, an eine Währungsunion ist derzeit nicht zu denken.
Von Otto Reiter.

Wahl-los: Anpassen und Verdrängen

Überlebensstrategien in ehemals kommunistischen europäischen Filmlandschaften.

Besagter Kollege lebt mittlerweile seit vielen Jahren in Prag, programmiert eine internationale Independent-Filmreihe für das Karlsbad-Festival und erfuhr vor wenigen Monaten, dass sein TV-Magazin „Filmopolis“ nach mehr als zehn Jahren vom staatlichen tschechischen Fernsehen nicht mehr produziert und gesendet wird.

Die Idee zu dieser Sendung hatte er, weil er früher, daheim in Bratislava, jahrelang im ORF „Apropos Film“ sehen durfte, was ihm wie ein Rettungsanker gegen die staatliche Isolation erschien. Sang- und klanglos ist auch die ORF/ZDF-Sendung vor kurzem nach mehr als 20 Jahren Laufzeit von den heimischen Bildschirmen verschwunden. Kürzestnachrichten, Schlagwortbilder in einem bunten, oberflächlichen Informationsbrei sollen produziert werden, hier wie da.

Zurück zur Euphorie, die schnell verflog. Viele, vor allem ältere Regisseure, fanden sich plötzlich in einem existenziellen und kreativen Vakuum, wie Alexej German formulierte: „Wir wussten, was verboten war, und versuchten es trotzdem. Heute scheint alles erlaubt und keiner weiß mehr, was er drehen soll.“ Die vermeintliche neue Freiheit bedeutete für viele schnelle Ernüchterung. Wie zur Dokumentation von Werner Schneyders Wendekommentar („Es haben zwar die Richtigen verloren, aber die Falschen gewonnen“) verwandelte sich die ideologische Zensur schnell in eine ökonomische. Glücksspieler, Goldgräber sowie gewöhnliche Verbrecher versuchten sich im Filmproduktionsgeschäft, aber auch viele naive und berechnende Wirtschaftsministranten, deren einziges Credo die höchstmögliche Besucheranzahl oder Zuschauerquote ist.

So wurden viele kritische Themen, vor allem die schonungslose Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit, tabuisiert. Man flüchtete in einstige Tabuthemen, billige Drogen-, Mafia- und Prostitutionsgeschichten, jugendliches Eskapismus-Klamauk-Gewaltkino (Serbien) oder mehrheitsfähiges, nostalgisches Beschönigungskino (Tschechien).
Gerade in diesen beiden Ländern hat, im Gegensatz zu allen anderen, in denen ebenso Hollywood-Massenware dominiert und das einheimische Filmschaffen marginalisiert ist, das nationale Kino enorm hohe Besucherresonanz. So unterschiedlich die Gründe, so ähnlich die Strategien: unterhaltsame Realitätsfluchten und kollektiv versöhnliche Nostalgie.

Schön, dass sich trotz des beherrschenden gewinnorientierten Denkens einige eigenwillige Regisseure nicht kreativ disziplinieren lassen wollen: Sasa Gedeon und Petr Zelenka (Tschechien), Martin Šulík (Slowakei), Béla Tarr (Ungarn), Želimir Žilnik (Serbien), Jan Cvitkovic (Slowenien), Tudor Giurgiu (Rumänien) und Sophia Zornitsa (Bulgarien).
Sie alle arbeiten „trotzdem und nicht weil“, sind mit ihren Filmen auch deshalb international erfolgreich und preisgekrönt, da sie auf ihre eigene Handschrift und selbständiges kritisches Denken nicht verzichten wollen. Nachdenklich selbstbewusst sagte der junge rumänische Regisseur, Produzent und Festivaldirektor Tudor Giurgiu im Mai 2004 anlässlich des von ihm gegen alle nationalen Widerstände 2001 gegründeten Transilvania International Film Festivals in Cluj/Kolozsvár/Klausenburg in Rumänien: „Nur, weil man auch essen muss, muss man sich noch lange nicht kulturell prostituieren.“

Die Verachtung der ehemals Mächtigen und der neuen Mächtigen ist ihm gewiss, aber kein Grund für ihn, seine Kinoleidenschaft und moralische Integrität in Gefahr zu bringen.
Die Zeiten werden noch härter werden: In allen Ländern sind die Besucherzahlen rückläufig oder konstant, die Produktionskosten steigen, internationale Konzerne etablieren sich mit Multiplexkinos, die sie vor allem mit US-amerikanischen Filmen verstopfen. Wie überall im schönen, neuen, freien Europa. Auch der so genannte freie Markt kennt viele Formen der Diktatur. Sie zu erkennen ist überlebensnotwendig. Und einige wenige, die Unverzichtbaren, haben begonnen zu reagieren...



Otto Reiter wurde 1957 in Ostberlin geboren, studierte Film- und Theaterwissenschaft und ist seit 1981 freier Filmjournalist für „Screen International“, „Moving Pictures“, „Der Standard“, „Profil“, „Die Presse“, Ö1, „Falter“ u. a. Seit 1985 ist er zudem tätig als Programmkonsulent für Viennale, Österreichische Filmtage/Diagonale, Filmfestival Rotterdam, Berlinale, Filmfestival Göteborg, „Crossing Europe“ u. v. a.
erschienen im "Magazin für Kontakt d. Erste Bank Group", issue4
> Magazin, Issue4 > Filmszene im ehemaligen Jugoslawien (Otto Reiter)- > Filmszene Slowakei (Otto Reiter)- > Über Béla Tarr, den einsamen Meister des ungarischen Kinos (Otto Reiter)- > Filmszene in Tschechien (Otto Reiter)- > Filmszene in Serbien und Kroatien (Otto Reiter)-